Interessant, wie Paulus angesichts seiner Schwachheit reagiert: Er macht etwas, auf das ich selbst nie kommen würde – er rühmt sich dafür. Wir würden uns normalerweise wohl eher für unsere Schwachheit schämen, als uns dieser zu rühmen und versuchen oft, die Position der Schwachheit und Verletzlichkeit zu meiden – ein Impuls von Sebastian Raber (Dipl. Theol.) HOME Passau.
1) Wir sind doch nicht schwach
In der hochzivilisierten und hoch technologisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts unserer global-westlichen Welt haben wir es geschafft, für jede Mangelerscheinung Abhilfe zu schaffen. Alle unsere Bedürfnisse sind scheinbar sofort stillbar, jeder hat Zugang zu allen nötigen lebensnotwendigen Dingen und zunehmend auch zu vielen Luxusgütern. Uns geht es doch nicht schlecht, wir können alles durch Technologie lösen. Wir sind stark. Jegliche Momente der Schwäche werden sofort angegangen und verhindert. Ähnliches erkennt man in der Erziehung von weinenden Kindern, wenn sie Sätze hören, wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Männer weinen nicht“ – denn wir sind doch nicht schwach!
2) Wir dürfen keine Fehler machen
Unsere negativen Erfahrungen aus Schule, Arbeit und privatem Umfeld haben uns über Jahrzehnte beigebracht, dass Fehler häufig harte Konsequenzen mit sich bringen. Ausgeschlossen sein, Unverständnis, Mobbing etc. folgen oft auf unser Scheitern und Versagen. Wer früher eine schlechte Note mit nach Hause gebracht hat, konnte sich einer harten Strafe sicher sein; wer schreiende Kinder mit in den Gottesdienst nimmt, bekommt oft böse Blicke der Gebetsgemeinschaft – denn wir dürfen keine Schwäche zeigen, wir sollten keine Fehler machen.
„Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt.”
3) Wir haben alles unter Kontrolle
Das Bedürfnis nach Sicherheit, das jedem Menschen inne ist, hat ihn dazu gebracht, große Höhen zu erreichen, sein eigener Herr zu sein und alles unter Kontrolle zu halten. Tausende Versicherungen gegen jedwede Katastrophe abschließen, sein Habe vehement gegen Diebstahl absichern, Sorgen um die Zukunft, ungesunde Kontrolle und Co-Abhängigkeiten in Beziehungen – all das und vieles mehr soll vor der Hilflosigkeit retten, die der Mensch erfährt, wenn er die Kontrolle vermeintlich verliert – denn Schwäche und Verletzlichkeit ist unsicher und unangenehm.
4) Wir vergleichen uns
Um dazuzugehören, um nichts zu verpassen und um die Anerkennung anderer zu sichern, müssen wir ständig auf dem neuesten Stand sein, was Schönheitsideale oder Besitz angeht. Neid und Eifersucht werden heutzutage nicht nur in der Nachbarschaft erlebt, sondern vor allem in den sozialen Netzen. Eine Unzahl von Influencern setzen die vermeintlich neuen Standards des Lebens. Der durchtrainierte, perfekte Körper, die neueste Mode oder Villen, Autos und teure Spielzeuge der Reichen – wer das nicht alles hat, wirkt nicht erfolgreich und demnach schwach (auch im wahrsten Sinne des Wortes).
5) Wir vermeiden Konflikte
In Beziehungen ist oft zu erkennen, dass Konflikte nicht auf Augenhöhe ausgetragen werden, sondern es eine Position des Starken – meist der Ankläger bzw. das Opfer – und die Position des Schwachen – meist der Täter – gibt. Es kostet uns sehr viel, Fehler und Schwäche zuzugeben. Daher wird lieber alles schöngeredet, unter den Teppich gekehrt oder der Konflikt strategisch zu meinen Gunsten geführt – denn Schwäche, auch wenn sie faktisch sich ereignet hat, darf auf keinen Fall bestraft werden, das wäre unangenehm.
Sicher gäbe es noch einige weitere Punkte, an denen man merkt, wie gerne wir vor unserer eigenen Schwachheit und Verletzlichkeit davonrennen wollen. Und vielleicht spürt der ein oder andere, wie anstrengend dieser Lebensstil ist, immer perfekt sein zu müssen, immer alles richtig machen zu müssen, Fehler zu verstecken, Konflikte unter den Teppich zu kehren. Unsere Kirche bietet mit Paulus Aussage schon ganz zu Anbeginn eine befreiende Alternative. Paulus merkt auch seine Schwäche, doch geht er offensichtlich ganz anders damit um. Statt sich zu schämen, freut er sich, jubelt, ja gibt sogar an damit, denn er weiß nicht nur, dass Schwäche normal ist, sondern auch, dass er nicht alles alleine schaffen muss und kann und Gott die nötige Gnade ihm zukommen lassen möchte. Ist das auch unsere Lebensrealität im Umgang mit unseren Arbeitgebern, Ehepartnern, Freunden?
Weil bei uns in der HOME Base am Domplatz viele Leute auf einem Haufen wohnen, ringen wir um einen gesunden Umgang mit Schwäche und Fehlern. Dies haben wir in unserer Hauskultur – der sogenannten HOME DNA – im siebten Punkt folgendermaßen formuliert: „Wir versuchen aus Fehlern zu lernen. Wir umarmen das Unperfekte. Wir schaffen einen Rahmen in dem es sicher ist, Schwäche zu zeigen. Wir sprechen über Fehler ehrlich, klar und wertschätzend. Wir entwickeln uns ständig weiter.“ Dieser Anspruch hat uns bisher erheblich geholfen, eine Atmosphäre der Annahme und Verletzlichkeit zu schaffen und ein gutes Miteinander zu fördern. Folgende vier Erkenntnisse haben wir auch in unserer Arbeit gewonnen:
1) Fehler und Schwäche sind wichtig
Fehler sind unvermeidbar. Wir machen unser ganzes Leben lang immer wieder Fehler, schon als Kinder – nur so lernen wir. Daher sind sie nichts Schlechtes, sondern eine willkommene Lernquelle. Ich muss z.B. an Elon Musk denken, der versucht, Raketen für die Reise zum Mars zu bauen. Erst nach unzähligen Versuchen, ist es ihm gelungen, eine Rakete zu starten und auch wieder zu landen, ohne Explosion. Nach jedem missglückten Start hat er sich gefreut über alles, was sie nun dazugelernt haben, um es später besser zu machen, anstatt in der Scham zu versinken.
2) Konflikte sind normal und lösbar
Wer das anerkennt, hat ein gutes Fundament für ein gesundes Konfliktmanagement. Im HOME verwenden wir die gewaltfreie Kommunikation, um Unstimmigkeiten zeitnah und auf eine faire Weise anzusprechen, ohne die Dinge schönzureden oder unter den Teppich zu kehren. Dadurch wird die Gemeinschaft stärker und heiler.
3) Wir dürfen die Schwäche vor Gott bringen
Schon in den Psalmen begegnen uns
unzählige Momente, in denen der Psalmist seine Klage um die Umstände nicht für sich behält und sie auch nicht versucht, zu vergessen; sondern er bringt sie vor Gott. Die Schrift weiß auch: „Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen“ (Ps 51,19). So wie Paulus dürfen wir unser Unperfektes und Schweres umarmen und mit Gott darüber ins Gespräch kommen.
4) Freudig auf seine Gnade hoffen
Paulus, der seine Schwachheit anerkennt, rühmt sich sogar dieser, weil er fest davon ausgeht, dass dann die Kraft Christi auf ihn herabkommt. Diese Kausalität scheint für ihn so selbstverständlich, so oft erfahren, dass er sie hier so vorstellt und das sogar im selben Abschnitt als wahre Stärke definiert: „In meiner Schwachheit bin ich stark“. Das ist die große Einladung Gottes in Momenten der Verletzlichkeit und Unsicherheit, dass wir freudig auf die Kraft Christi, auf seine Gnade hoffen dürfen, ohne alles selbst schaffen zu müssen.
Als Anregung möchte ich Sie ermutigen, im nächsten schwachen Moment nicht in eine Pseudostärke sich zu flüchten, nicht zu versuchen, die Kontrolle um jeden Preis zu behalten, nicht perfekt sein zu müssen, sondern sich in diese Wahrheit fallen zu lassen: In meiner Schwachheit will Gott stark sein, will er seine Gnade schenken, will er es uns leichter machen. Und auf diese seine Liebe dürfen wir freudig und selbstbewusst hoffen.